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„Der Anfang vom Ende der Europäischen Union, wie wir sie kennen“
Für Insider war es lange absehbar, und doch erschüttert das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichts die Europäische Union: Gerichtspräsidentin Julia Przylebska erklärte am Donnerstag, dass wesentliche Teile der Europäischen Verträge nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Es ist die ultimative Eskalation im Streit über den Abbau des Rechtsstaats in Polen. Der Vorgang ist mit nichts in der Rechtsgeschichte der EU vergleichbar.
Nun beginnt das große Rätselraten: Was tut die EU gegen den Alleingang aus Warschau? Und: Werden jetzt weitere Länder, wie Slowenien oder Ungarn, auch den Angriff auf das EU-Recht wagen? EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte, sie sei „sehr besorgt“. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn wurde noch deutlicher: „Polen spielt mit dem Feuer.“
Nahezu alle namhaften Experten begreifen den polnischen Urteilsspruch als „juristischen Polexit“, also als ein Ausscheiden Polens aus der europäischen Rechtsordnung. Die EU-Kommission ist alarmiert, weil das polnische Gericht aus Sicht Brüssels eine Grundsatzentscheidung getroffen hat, die die demokratische Grundlage der Union frontal attackiert: Das Urteil aus Warschau erklärte die Artikel 1 und 19 der Europäischen Verträge für nichtig – und damit zugleich den integrativen Charakter der EU und die Autorität des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Aus Sicht Polens wiederum geht es um eine angebliche Wiederherstellung der eigenen Souveränität. Die polnische Regierung stellt sich hinter das Urteil. „Das polnische Verfassungsgericht hat entschieden, was auch schon das deutsche Bundesverfassungsgericht 2009 und 2019 entschieden hat, nämlich dass die EU keine Kompetenzen im Einflussbereich auf die Organisation der Gerichtsbarkeit in Deutschland hat“, sagte Vizejustizminister Sebastian Kaleta zu WELT AM SONNTAG.
„Polen ist seit über tausend Jahren europäisch“
Und natürlich habe die EU auch keine Kompetenzen, über die Gerichtsbarkeit in Polen zu bestimmen, sagte der Regierungspolitiker. Auch Ryszard Legutko, Vorsitzender der Delegation von Polens Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Europäischen Parlament, versichert: „Es wird keinen Polexit geben.“ Das habe auch der polnische Ausschuss für Recht und Justiz eindeutig so geäußert. „Polen ist seit über tausend Jahren europäisch“, sagt Legutko.
Zahlreiche Rechtsexperten weisen allerdings den von Polens Regierung geäußerten Vergleich mit dem Bundesverfassungsgericht zurück. Der Streit ist ein weiteres Kapitel einer jahrelangen Auseinandersetzung zwischen Warschau und Brüssel. Dabei geht es um eine Grundsatzfrage: Wie stark darf Brüssel sich in nationale Angelegenheiten einmischen, und wie souverän darf ein Mitgliedsland der EU überhaupt sein?